Flimkritik. Lektüren der Filmkritik (1957–1984)

2. Juni 1967

Jahrgang '67 der Zeitschrift Filmkritik: Was kommt rein? Ich meine nicht die Filme, ich meine die Dinge, die auf der Straße passieren. Dringt da etwas in die Münchner Redaktion der Zeitschrift durch? Der Mord am Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 während des Schah-Besuchs in Berlin zum Beispiel? Durch die Nachrichten ging eine Photographie, auf der zu sehen ist, wie ein schmächtiger junger Mann auf dem Boden liegt. Denke ich an dieses Bild, dann sehe ich immer die Ledersandalen Ohnesorgs mit den feinen Riemen. Wie er damit auf der Flucht zurechtkam, als er mit den anderen Mädchen und Jungs, manche versteckt unter Papiertütengesicht des Schahs und seiner Frau, andere unter den Rufen »Schah, Schah, Scharlatan«, gejagt wurden, während in der Deutschen Oper Mozarts »Zauberflöte« lief? Ich denke an die merkwürdige Korrespondenz der schmalen Riemen der Sandalen mit seinem schmalen Gürtel, der das Hemd in der Hose hält, und mit dem Uhrarmband Friederike Dollingers, die erschrocken und ungläubig aufschaut, den Kopf Ohnesorgs in den Händen … Business as usual im Alltag der Autorinnen und Autoren der Filmkritik? Ich blättere durch die Hefte: In der Augustnummer 1967, »Filme in Berlin«, das Bild eines Mannes, der auf der Straße liegt.

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Es ist nicht Benno Ohnesorg. Es ist Jean-Pierre Léaud, der in Jerzy Skolimowskis »Le Départ« (1966) Marc spielt und sich einer Straßenbahn in den Weg legt. Im Film hält Marc weder die Straßenbahn auf, wo ein Mädchen drinsitzt, das er liebt, noch überrollt sie ihn. Die Bahn folgt einer Weichenstellung und fährt rechts aus dem Bild.
Ich blättere weiter und denke, dass man Spuren der Protestereignisse auf den Straßen im Jahrgang 1967 der Filmkritik nicht findet. Doch dann zeichnen sich Indizien am Rande ab. In einer Anzeige für ein Buch zum Beispiel. Vom Cover von Margret Kosels Buch Gammler, Beatniks, Provos – die schleichende Revolution schreit ein bärtiger Typ herab. Auf der anderen Seite die Filmenthusiasten: hinter der Kamera. Das ist ein distanziertes Verhältnis. Ausdrücklich konfrontativ verhält sich Filmkritik-Redakteur Enno Patalas noch im Februar 1968 auch gegenüber »Dutschkes Kinostürmern« wenn er von »Fahnenschwingern im Mao-Look« (98) schreibt. Er meinte damit die Demonstranten auf dem Festival in Knokke.

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Bücher scheinen hier schneller zu sein als die Zeitschrift, Dinge aus der Außenwelt aufzunehmen. Das wirft ein Licht. Im Buch die entsprechenden Bilder.

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Dass '67 in der Filmkritik etwas passierte, das zeigt sich nicht durch die Thematisierung der Dinge auf der Straße, das zeigt sich in einer Prüfung der filmkritischen Praxis ( --> Umbruch). Im Aprilheft wird eine Artikel-Serie fortgeführt, die Mitte der 1960er begann. Der Redakteur Wilfried Berghahn hatte eine Debatte zum »Selbstverständnis der Filmkritik« eröffnet. 1966 wurde sie von Enno Patalas' »Plädoyer für die Ästhetische Linke« fortgesetzt. Im Aprilheft '67 schreiben nun Helmut Färber, Dietrich Kuhlbrodt und Herbert Linder. Und in den drei Beiträgen wird eine Abkehr vom Modell des Filmkritikers als Lehrautorität deutlich, das die frühen Jahre bestimmte, als das selbsterklärte Ziel der Filmkritik darin bestand, »den Leser zur rechten Einsicht zu führen« (1/57: 1). Helmut Färber fordert nun »Formen des größeren Respekts vor Lesern« (228), die sich nicht auf »auf urteilende[…], möglichst abschließende[…] Abhandlungen« (227) beschränken sollten. Dietrich Kuhlbrodt schreibt belustigt über das Selbstverständnis des Kritikers als Lehrer, der den Kindern erkläre, was es zu sehen gäbe. Das ist die antiautoritäre Spur, die sich quer durch die Filmkritik zieht.
Der Konflikt, der 1969 zu einem Schisma zwischen der »Politischen Linken« und »Ästhetischen Linken« und zu einer polemisch ausgetragenen Diskussion führen wird, ist hier angelegt. Im Zentrum steht ein politischer Begriff von Sinnlichkeit, der von Kinoerfahrung geprägt wurde. Die »Politischen« sahen darin nur Eskapismus. Yaak Karsunke wird in der konkret im September 1970 schreiben: »Die Neue Linke ging auf die Straße – die Neue Sensibilität ging weiter ins Kino.«
Tatsächlich zeigt sich, dass in die Filmkritik kam, was auf der Straße passierte: in ihrer Schreibweise.
Herbert Linder: »Die alte Filmkritik neigte immer dazu, das Gesehene in rationale Raster zu übersetzen statt dem Leser zum besseren Sehen zu verhelfen.« (233) Linder spricht von der »Hypothek« einer Leserschaft, die von »rein rationalen Texten erzogen« worden sei und die das »Nicht-Rationale bestenfalls zu mißachten« gelernt hätte. »Man müßte aber«, fordert er, »Kritiken schreiben können, die nicht einen Film sich als Objekt vornehmen, wie ein Dokumentarfilm sein Thema, sondern ihn fortsetzen mit anderen Mitteln: wie ein Spielfilm die Dinge verwendet, die vorhanden sind, um etwas eigenen aus ihnen zu machen. […] Kritik an Filmen ist: … ich sehe … ich sehe nicht … später wird es schwieriger. Gedanken werden ausprobiert und umgedreht. Die Sprache stellt Fallen. […] [D]ie Wörter ändern ihren Sinn und zerbrechen dem, der ein positives Gebäude aus ihnen erstellen will.
Ist bislang zu vermissen … fragt man sich, ob das nötig ist … scheint vom Regisseur nicht bewältig … sollen wir etwa … muß da doch gefragt werden … die Beweisführung fehlt … ist absolut nicht einzusehen, warum ….
Wie also schreiben?« (234)

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